Meine Bilder pendeln in ihrem Blick auf die Welt zwischen banalen Motiven und gelegentlich erhaben anmutenden Themen. Es ist eine Frage der Perspektive, ob man von oben auf den Bildraum schaut oder das Bildgeschehen nur beiläufig wahrnimmt. Die handelnden Personen richten sich nicht an den Betrachter, inszenieren sich nicht und es geht schon gar nicht um Leben und Tod. Wie aus einem sich permanent abspulenden Filmstreifen wird zufällig ein Moment herausgenommen und nur dadurch scheinbar bedeutend, weil er vereinzelt wird. Tatsächlich gibt es ein Vorher und ein Nachher. Nichts deutet daraufhin, einem spektakulären Ereignis beizuwohnen. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der augenblickliche beiläufige Stillstand zu einem heroischen oder demütigenden avanciert, in einen stolzen oder peinlichen Ausschnitt der Wirklichkeit verwandelt wird.

Grundsätzlich benennen die Bildtitel, was vordergründig zu sehen ist: Der Feger. Der Magier. Der Schrauber. Die Nichtschwimmerin. Der Maler. Galante Aufforderung. Modenschau …

Das Betrachten von Bildern oder das unschuldige und privilegierte Sehen1

Wer hat die Deutungshoheit über die Welt, insbesondere über die Menschheit? Der Malstift oder der Schreibstift? Kunst vs. Wissenschaft. Wer ist effizienter beim Zugriff auf Schicksale?

Sicher ist eines: Die Kunst ist schneller beim Erkennen von Ereignissen. Alltag, Krieg, Leidenschaften, Krankheiten und Tod. All das erfasst der Künstler früher als der Wissenschaftler. Die Wissenschaft erforscht Ursachen, analysiert und vergleicht, um Schlüsse daraus zu ziehen. Sie ist ihrem Wesen nach langsamer.

Diese Trennungslinie setzt sich beim Betrachter von Kunst fort.
Hier der sogenannte privilegierte Seher, der mit Wissen um Hintergründe den Bildgegenstand überfrachtet, wodurch dieser seine Unschuld verliert.
Es ist Allgemeinwissen, dass alles schon mal erzählt worden ist. Wir sind nur Zwerge auf den Schultern von Riesen (Bernhard von Chartres), sozusagen kleine Zweitseher. Wir erzählen nur nach, was uns die Geschichte vorgesagt hat.

Der unschuldige Seher nähert sich der Kunst unbefangen, schaut nur und achtet nicht mal auf die Hinweise unter den Bildern. Bazon Brock meint, man muss Kunst nicht intellektuell begreifen.
Wir leiden heute an einer Überproduktion an Bildern und sammeln für unser tägliches Archiv, in dem sich Ängste, Liebe und Hass und vieles mehr stauen. Der Künstler greift nach Belieben aus dieser Bilderkiste und erschafft so neue Kontexte und Überschreibungen.

Jede Zeit hat ihre Kunst.
Der Direktor des Louvre, Jean-Luc Martinez2, entdeckt das an einem neuen Phänomen. Er gestattet, was andernorts verboten ist, den vorwiegend jugendlichen Besuchern in seinem Museum, Selfies zu machen. Etwa vor der Mona Lisa. Es ist die aktuellste Form des Selbst-Bildnisses. Für Martinez ist nur eines wichtig: das echte Interesse. Er sieht darin einen neuen Aspekt emotionaler Wahrnehmung. Die oberen Vernunftgründe von Logik und Rationalität spielen hier keine Rolle. Die im 18. Jahrhundert von Alexander Gottlieb Baumgarten geschaffene Disziplin, die Ästhetik, führt sozusagen auf der unteren Ebene zur Kunst.

Diese „unschuldige“ Form der Kunst-Begegnung mittels Selfie eröffnet allen Schichten des Volkes die Teilhabe an der Kunst. Die Motive von Selbst-Bildnissen sind vielfältig, und ihre Geschichte ist lang.

Sie beginnt mit dem antiken Narcissus. Dieser entzückte sich, als er sein eigenes Spiegelbild im Wasser sah.
Die heutige Inszenierung mittels Kamera und Teleskopstab gleicht in gewisser Weise der Entdeckung des antiken Spiegelbildes. Fehlt dem Künstler (oder der Künstlerin) ein Modell, dann ist er selbst sein eigenes.

Wir sehen Bilder von Selbstzerfleischung und solche im Überschwang der Gefühle. Andere sind dubiose Objekte der Lächerlichkeit wie etwa die zeitgenössischen Grimassen eines Arnulf Rainer oder Jahrzehnte früher von Max Beckmann.

Im Mittelalter fremdelt der Künstler noch und malt sich allenfalls verschämt an den Bildrand. Das Bewusstsein für das eigene Ich setzt Freiheit voraus. Erst im 18. Jahrhundert keimte der Geniekult auf, und der Künstler ahmte Selbstporträts in Herrscherpose nach. Das war nicht mehr der Status des Handwerkers, der vordem in Zünften organisiert war.
Es sind Selbst-Bildnisse mit individuellen Befindlichkeiten. Sie spiegeln die Denkweisen und die Vielfalt der Menschen wider und sagen etwas über die Welt aus, ohne sie bloß nachzustellen. Wir suchen sie in den Physiognomien ab, um gleichsam dahinter zu schauen.

1 Dieser Text war ursprünglich für den Katalog der Ausstellung „Selbst“ in der Villa Dessauer in Bamberg 2020 vorgesehen, wurde dann aber von der Redaktion nicht berücksichtigt.

2 Herpell, Gabriella: Man muss Kunst nicht intellektuell begreifen (Interview mit Jean-Luc Martinez). In: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 39, 30. September 2016, S. 78 – 84